Zwei Mal Groß Breesen und einige Fragezeichen
Der Ort im ehemaligen Niederschlesien, in dem sich junge Jüdinnen und Juden in den 1930er Jahren auf ihre Auswanderung vorbereiten konnten, scheint zu boomen, derzeit nicht nur als Urlaubsresort, sondern auch in der historischen Wahrnehmung, davon zeugen zwei kürzlich erschienene Aufsätze.
Barbara Stambolis vermittelt in ihrem Beitrag: „Wir dürfen über dem Acker die Sterne nicht verlieren“ erschienen im Konferenzband „Flucht und Rückkehr. Deutsch-jüdische Lebenswege nach 1933“ (S. 103-119) einen kursorischen Überblick über die Aktivitäten in Groß Breesen und verbindet das mit dem Versuch, das Auswanderungsgut im Kontext der Jugendbewegung zu verorten. Als Quellen dafür hat sie den Bestand der inzwischen digitalisierten Rundbriefe der Groß Breesener, die von 1938 bis 2003 erschienen, gewählt und mit Verweisen auf einschlägige Literatur angereichert. Negativ fallen hier allerdings einige Fehler ins Gewicht. Am harmlosesten wahrscheinlich die Eckdaten, denn das Auswanderungsgut in Groß Breesen existierte von 1936 bis 1943 und nicht von 1935 bis 1942, wie Stambolis irrtümlich annimmt (S. 103). Die Behauptung jedoch, das Gut habe geholfen: die Jugendlichen „...auf ein Leben in Kibbuzim in Palästina/ Israel vor(zu)bereiten ...“ (S. 104) ist schlichtweg falsch, denn Groß-Breesen diente in den Jahren nach 1936 vor allem nichtzionistischen Jugendlichen zur Auswanderungsvorbereitung in Länder Nord- und Südamerikas.
Frank Wolff kennt und beschreibt in seinem Aufsatz: „Der Traum vom deutsch-jüdischen Bauern“ im Sammelband „Was soll aus uns werden?“ (S. 195-237) die Ausgangslage für und Lebensbedingungen in Groß Breesen wesentlich sachkundiger und detaillierter. Als Hauptquelle nutzte er einen Bestand des „Centralvereins“ (CV), der im Sonderarchiv Moskau lagert (bzw. dessen Mikrofilmkopien im Center for the history of Jewish People in Jerusalem), zudem referiert er verschiedene andere Veröffentlichungen zum Thema. Eckpunkte zur Gründung und zum Betrieb des Gutes, sowie die Intentionen einiger Akteure zwischen 1936 und 1938 werden hier aufschlussreich beschrieben. Auch wenn er selbst nur von „Ansatzpunkte[n]“ der Forschung (S. 199) schreibt, ist sein Resumee umfassend.
Dennoch setzt hier meine Kritik ein. Wolffs Fixierung auf die administrativen Bestände des CV, während andere Dokumente und Sichtweisen lediglich in Fussnoten erwähnt und damit zu Unrecht kaum einbezogen werden, führt meiner Meinung nach zu einem „schiefen Bild“, in dem das Gut Groß Breesen als allein vom CV initiert und geprägt erscheint. Selbstverständlich erwähnt er auch die anderen Akteure: die Reichvertretung, den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) und die Jugendbünde, aber keiner davon wird näher beschrieben. So war der RjF ab Mitte der 1920er Jahre prägend für den „Reichsbund für jüdische Siedlung“ und dessen Musterprojekt Gross Gaglow, hatte also schon vor Groß Breesen eine eigene Agenda landwirtschaftlicher Berufsumschichtung. Nach dem Scheitern des Projektes 1935 wurden einige Gaglower Siedler mit Hilfe der ICA nach Südamerika gebracht, es brauchte also nicht Groß Breesen (wie Wolff das beschreibt), um diese Zusammenarbeit zu suchen. Auch wenn es für den RjF keine ähnliche Aktenüberlieferung wie für den CV gibt, findet man einiges dazu in verschiedenen Ausgaben von „Schild“, dem Zirkular des Reichsbundes. Auch ein Hinweis auf die Frühgeschichte Groß Breesens als Hachschara-Stelle der Zionisten vor 1933 wäre angemessen gewesen.
Zur jüdischen Jugendbewegung referiert Wolff nur einen Artikel und eine (zugegebenermaßen sehr gute) Magistraarbeit. Das reicht ihm allerdings, um festzustellen, die Jugendbewegung, die anfänglich einen großen Anteil an der Gründung von Groß Breesen gehabt hat, hätte sich „aufgrund innerer Spaltungen und Spannungen“ (S. 206) frühzeitig aus dem Projekt zurückgezogen. Historische Tatsache ist, dass das „Schwarze Fähnlein“, ein Jugendbund dem einige Breesener der erste Stunde angehört hatten, mit der Selbstauflösung im Dezember 1934 einem möglichen Verbot zuvor gekommen war, während der „Ring“ (vorher „Bund Deutsch-Jüdischer Jugend“ BDJJ) im Januar 1937 verboten wurde. Wer also hätte sich, ein Jahr nach der Gründung von Groß Breesen, noch spalten sollen, wenn die nicht-zionistischen Bünde gar nicht mehr existierten?
Sichtbar wird die „Schieflage“ vor allem in der Bewertung der Arbeiten und Materialien von Tom Angress, dem Wolff sogar unterschwellig Mythenbildung unterstellt. Werner „Tom“ Angress war nicht nur bis 1938 Praktikant in Groß Breesen (was er umfangreich in seiner 2005 erschienenen Autobiographie beschrieb, ), sondern hat sich auch als Historiker in verschiedenen Beiträgen kritisch mit der Ausbildung und der Gemeinschaft in Groß Breesen auseinander gesetzt. Den Zweifel an Angress‘ Beschreibungen und Einschätzungen untersetzt Wolff ausgerechnet mit einer Oral-history Quelle (die Erinnerungen von Wolfgang Hadda) , einer Quellengattung, die (mit einer weiteren Ausnahme) in seinen weiteren Erörterungen zu Groß Breesen kaum eine Rolle spielt. Dass Hadda im Gegensatz zu Angress erst nach dem Novemberpogrom 1938 nach Groß Breesen kam, als sich die Kerngruppe der ehemaligen Groß Breesener einschliesslich ihres charismatischen Leiters Curt Bondy entweder noch im KZ Buchenwald, auf gepackten Koffern oder schon ausserhalb NS-Deutschlands befand, spielte für Haddas Sicht und Erleben des Auswanderungsgutes selbstverständlich eine ganz entscheidende Rolle und nicht nur eventuell wie Wolff einräumt . Allerdings war die Verbindung der ehemaligen Groß Breesener, bzw. jener, die sich dazugehörig fühlten, der „Gemeinschaft“ von der Angress schrieb und die Hadda nicht erlebt hatte, nicht allein auf jene beschränkt, die dort vor 1938 ihre Ausbildungen absolviert hatten. Das hätte Wolff, wenn er diesem Quellenfundus mehr als nur eine Fussnote gewidmet hätte, in den schon erwähnten Rundbriefen der Groß Breesener detailliert nachlesen können.
Schliesslich konstatiert Frank Wolff noch das „Scheitern“ des Groß Breesener Experimemts mit dem Argument, dass sich schliesslich nur eine Minderheit der Auszubildenden für ein Leben in der Landwirtschaft entschieden habe. Aber welche Kriterien für Erfolg und Scheitern sollten hier angelegt werden? Die Möglichkeit, Ausbildungsperspektiven in NS-Deutschland geschaffen und damit Auswanderung und Lebensrettung ermöglicht zu haben war zweifellos ein historischer Erfolg. Dass die zionistisch-chaluzische Auswanderung auch nicht automatisch zum Leben im Kibbuz führte (auch wenn das angestrebt war) sollte bei einer solchen Bewertung ebenfalls bedacht werden. Sollen wir z.B. das Leben von Georg Giora Josephthal, der aktiv in der Führung von Hechaluz und Jüdischer Jugendhilfe war, dabei Jugendliche zu Hachschara und Alija geführt hatte und 1937/38 selbst eine Hachschara in Ellguth /Schlesien absolvierte, als „gescheiterte Existenz“ verstehen, nur weil er nicht sein ganzes Leben im Kibbuz arbeitete sondern israelischer Arbeitsminister wurde?
Bei aller Kritik ist Frank Wolffs Darstellung zur Geschichte des Auswanderungsgutes Groß Breesen jedoch eine der detailliertesten und materialreichsten Arbeiten aus diesem Kontext, auch wenn die erwähnten Deutungen und Auslassungen das Gesamtergebnis für mich deutlich schmälern.
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Barbara Stambolis vermittelt in ihrem Beitrag: „Wir dürfen über dem Acker die Sterne nicht verlieren“ erschienen im Konferenzband „Flucht und Rückkehr. Deutsch-jüdische Lebenswege nach 1933“ (S. 103-119) einen kursorischen Überblick über die Aktivitäten in Groß Breesen und verbindet das mit dem Versuch, das Auswanderungsgut im Kontext der Jugendbewegung zu verorten. Als Quellen dafür hat sie den Bestand der inzwischen digitalisierten Rundbriefe der Groß Breesener, die von 1938 bis 2003 erschienen, gewählt und mit Verweisen auf einschlägige Literatur angereichert. Negativ fallen hier allerdings einige Fehler ins Gewicht. Am harmlosesten wahrscheinlich die Eckdaten, denn das Auswanderungsgut in Groß Breesen existierte von 1936 bis 1943 und nicht von 1935 bis 1942, wie Stambolis irrtümlich annimmt (S. 103). Die Behauptung jedoch, das Gut habe geholfen: die Jugendlichen „...auf ein Leben in Kibbuzim in Palästina/ Israel vor(zu)bereiten ...“ (S. 104) ist schlichtweg falsch, denn Groß-Breesen diente in den Jahren nach 1936 vor allem nichtzionistischen Jugendlichen zur Auswanderungsvorbereitung in Länder Nord- und Südamerikas.
Frank Wolff kennt und beschreibt in seinem Aufsatz: „Der Traum vom deutsch-jüdischen Bauern“ im Sammelband „Was soll aus uns werden?“ (S. 195-237) die Ausgangslage für und Lebensbedingungen in Groß Breesen wesentlich sachkundiger und detaillierter. Als Hauptquelle nutzte er einen Bestand des „Centralvereins“ (CV), der im Sonderarchiv Moskau lagert (bzw. dessen Mikrofilmkopien im Center for the history of Jewish People in Jerusalem), zudem referiert er verschiedene andere Veröffentlichungen zum Thema. Eckpunkte zur Gründung und zum Betrieb des Gutes, sowie die Intentionen einiger Akteure zwischen 1936 und 1938 werden hier aufschlussreich beschrieben. Auch wenn er selbst nur von „Ansatzpunkte[n]“ der Forschung (S. 199) schreibt, ist sein Resumee umfassend.
Dennoch setzt hier meine Kritik ein. Wolffs Fixierung auf die administrativen Bestände des CV, während andere Dokumente und Sichtweisen lediglich in Fussnoten erwähnt und damit zu Unrecht kaum einbezogen werden, führt meiner Meinung nach zu einem „schiefen Bild“, in dem das Gut Groß Breesen als allein vom CV initiert und geprägt erscheint. Selbstverständlich erwähnt er auch die anderen Akteure: die Reichvertretung, den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) und die Jugendbünde, aber keiner davon wird näher beschrieben. So war der RjF ab Mitte der 1920er Jahre prägend für den „Reichsbund für jüdische Siedlung“ und dessen Musterprojekt Gross Gaglow, hatte also schon vor Groß Breesen eine eigene Agenda landwirtschaftlicher Berufsumschichtung. Nach dem Scheitern des Projektes 1935 wurden einige Gaglower Siedler mit Hilfe der ICA nach Südamerika gebracht, es brauchte also nicht Groß Breesen (wie Wolff das beschreibt), um diese Zusammenarbeit zu suchen. Auch wenn es für den RjF keine ähnliche Aktenüberlieferung wie für den CV gibt, findet man einiges dazu in verschiedenen Ausgaben von „Schild“, dem Zirkular des Reichsbundes. Auch ein Hinweis auf die Frühgeschichte Groß Breesens als Hachschara-Stelle der Zionisten vor 1933 wäre angemessen gewesen.
Zur jüdischen Jugendbewegung referiert Wolff nur einen Artikel und eine (zugegebenermaßen sehr gute) Magistraarbeit. Das reicht ihm allerdings, um festzustellen, die Jugendbewegung, die anfänglich einen großen Anteil an der Gründung von Groß Breesen gehabt hat, hätte sich „aufgrund innerer Spaltungen und Spannungen“ (S. 206) frühzeitig aus dem Projekt zurückgezogen. Historische Tatsache ist, dass das „Schwarze Fähnlein“, ein Jugendbund dem einige Breesener der erste Stunde angehört hatten, mit der Selbstauflösung im Dezember 1934 einem möglichen Verbot zuvor gekommen war, während der „Ring“ (vorher „Bund Deutsch-Jüdischer Jugend“ BDJJ) im Januar 1937 verboten wurde. Wer also hätte sich, ein Jahr nach der Gründung von Groß Breesen, noch spalten sollen, wenn die nicht-zionistischen Bünde gar nicht mehr existierten?
Sichtbar wird die „Schieflage“ vor allem in der Bewertung der Arbeiten und Materialien von Tom Angress, dem Wolff sogar unterschwellig Mythenbildung unterstellt. Werner „Tom“ Angress war nicht nur bis 1938 Praktikant in Groß Breesen (was er umfangreich in seiner 2005 erschienenen Autobiographie beschrieb, ), sondern hat sich auch als Historiker in verschiedenen Beiträgen kritisch mit der Ausbildung und der Gemeinschaft in Groß Breesen auseinander gesetzt. Den Zweifel an Angress‘ Beschreibungen und Einschätzungen untersetzt Wolff ausgerechnet mit einer Oral-history Quelle (die Erinnerungen von Wolfgang Hadda) , einer Quellengattung, die (mit einer weiteren Ausnahme) in seinen weiteren Erörterungen zu Groß Breesen kaum eine Rolle spielt. Dass Hadda im Gegensatz zu Angress erst nach dem Novemberpogrom 1938 nach Groß Breesen kam, als sich die Kerngruppe der ehemaligen Groß Breesener einschliesslich ihres charismatischen Leiters Curt Bondy entweder noch im KZ Buchenwald, auf gepackten Koffern oder schon ausserhalb NS-Deutschlands befand, spielte für Haddas Sicht und Erleben des Auswanderungsgutes selbstverständlich eine ganz entscheidende Rolle und nicht nur eventuell wie Wolff einräumt . Allerdings war die Verbindung der ehemaligen Groß Breesener, bzw. jener, die sich dazugehörig fühlten, der „Gemeinschaft“ von der Angress schrieb und die Hadda nicht erlebt hatte, nicht allein auf jene beschränkt, die dort vor 1938 ihre Ausbildungen absolviert hatten. Das hätte Wolff, wenn er diesem Quellenfundus mehr als nur eine Fussnote gewidmet hätte, in den schon erwähnten Rundbriefen der Groß Breesener detailliert nachlesen können.
Schliesslich konstatiert Frank Wolff noch das „Scheitern“ des Groß Breesener Experimemts mit dem Argument, dass sich schliesslich nur eine Minderheit der Auszubildenden für ein Leben in der Landwirtschaft entschieden habe. Aber welche Kriterien für Erfolg und Scheitern sollten hier angelegt werden? Die Möglichkeit, Ausbildungsperspektiven in NS-Deutschland geschaffen und damit Auswanderung und Lebensrettung ermöglicht zu haben war zweifellos ein historischer Erfolg. Dass die zionistisch-chaluzische Auswanderung auch nicht automatisch zum Leben im Kibbuz führte (auch wenn das angestrebt war) sollte bei einer solchen Bewertung ebenfalls bedacht werden. Sollen wir z.B. das Leben von Georg Giora Josephthal, der aktiv in der Führung von Hechaluz und Jüdischer Jugendhilfe war, dabei Jugendliche zu Hachschara und Alija geführt hatte und 1937/38 selbst eine Hachschara in Ellguth /Schlesien absolvierte, als „gescheiterte Existenz“ verstehen, nur weil er nicht sein ganzes Leben im Kibbuz arbeitete sondern israelischer Arbeitsminister wurde?
Bei aller Kritik ist Frank Wolffs Darstellung zur Geschichte des Auswanderungsgutes Groß Breesen jedoch eine der detailliertesten und materialreichsten Arbeiten aus diesem Kontext, auch wenn die erwähnten Deutungen und Auslassungen das Gesamtergebnis für mich deutlich schmälern.
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In Zusammenarbeit mit
DFG-Forschungsprojekt: „Zwischen Alija und Flucht. Jüdische Jugendbünde und zionistische Erziehung unter dem NS-Regime und im vorstaatlichen Israel 1933–1945.“
Projektleitung: Prof. Dr. Ulrike Pilarczyk, +49 (0) 531-391 8807, ulrike.pilarczyk(at)tu-bs.de Technische Universität Braunschweig | Institut für Erziehungswissenschaft © 2023 |